Mittwoch, 14. Oktober 2015

Wie Medien Nachrichten filtern und Realitäten inszenieren

Wie Medien Nachrichten filtern und Realitäten inszenieren 

Markus Gärtner

Die Großbank Credit Suisse hat gerade ihre neue Studie zum Reichtum auf der Welt veröffentlicht. Je nachdem, welchen Zeitungsbericht man zu dieser Vermögensstudie liest, sieht die Welt völlig anders aus.

Die Credit Suisse beschäftigt sich diesmal im Schwerpunkt des jährlich erscheinenden Global Wealth Report mit der weltweiten Zerrüttung und Auflösung der Mittelschicht. Doch die meisten Mainstream-Zeitungen, wenn sie den Bericht denn würdigen, erschaffen mit der Wiedergabe der Studie eine andere Realität. Nur wenige Publikationen würdigen die Kernaussage in diesem Bericht, wie der konservative Business Insider in seiner britischen Online-Ausgabe:
»In diesem Jahr hat sich die Investmentbank den anhaltenden und beunruhigenden Zerfall der Mittelschicht mit Blick auf deren Anteil am Vermögen in verschiedenen Regionen der Welt vorgenommen. Und überall wo man hinschaut, geht dieser Anteil zurück. Das gilt für Asien und Europa, wo die Mittelschicht zu Beginn des Jahrhunderts einen hohen Anteil am Vermögen hatte, aber es gilt auch für Länder wie Indien und Nordamerika, wo der Anteil der Mittelschicht schon viel niedriger war«.
Auch die International Business Times bringt die Kernaussage des Credit-Suisse-Berichts ziemlich spitz auf den Punkt:
»Die Ungleichheit nimmt weltweit weiter zu. Dem reichsten einen Prozent aller Haushalte gehört die Hälfte des gesamten Vermögens. Das passiert zum ersten Mal, seit die Credit Suisse im Jahr 2000 mit der Analyse der Daten begann, und zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert. Für die Menschen am anderen Ende der Vermögensskala sieht es genau umgekehrt aus: Der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung gehört lediglich ein Prozent der Vermögen«
Was lesen wir zu dem Investmentbank-Bericht in den deutschsprachigen Medien?

Das Handelsblatt interessiert sich zwar dafür, »wo der Reichtum plötzlich schmilzt«. Doch vom Zerfall der für alle Volkswirtschaften wichtigen Mittelschicht keine Spur. Stattdessen betrachtet der Artikel die Auswirkungen des Dollars auf die Vermögen, beklagt den schwächeren globalen Wirtschaftsausblick, den der Vermögensreport gibt und verweist auf folgenden Befund von Credit Suisse:
»Milliardäre aufgepasst: Erstmals seit 2008 ist das weltweite Vermögen und damit die Zahl der Superreichen gesunken. Die Ursachen sind in den USA zu finden – ausgerechnet in dem Land, das nicht in dem Abwärtssog steckt.«
Die Presse in Wien interessiert sich fast ausschließlich dafür, dass Österreich das »viertreichste Land der Eurozone« ist und bedauert, dass die Alpenrepublik bis zum Jahr 2020 auf den fünften Rang abrutschen könnte. Von der schleichenden Pulverisierung der Mittelschicht keine Rede. Ebenso in den Salzburger Nachrichten.

Im anderen Alpen-Nachbarland, der Schweiz, denkt die Neue Zürcher Zeitung beim Stichwort Reichtum vor allem an das aufsteigende (aber derzeit kriselnde) China:
»Auch wenn sich das Pro-Kopf-Vermögen in China noch auf einem vergleichbar niedrigen Niveau befindet, wird als Folge der wirtschaftlichen Expansion das Reich der Mitte in wenigen Jahren Japan als – in absoluten Zahlen – Land mit den zweithöchsten Vermögen der Welt ablösen. Dieser Befund geht aus dem Global Wealth Report 2014 der Credit Suisse hervor.«
Interessant ist für die NZZ offenbar vor allem, wie viele potenzielle Millionäre aus China in den kommenden Jahren einen Teil ihres Vermögens in der Schweiz parken könnten. Von der weltweiten Dezimierung der Mittelschicht auch in diesem Bericht keine Spur:
»Aussagekräftig sind auch die Credit-Suisse-Prognosen bis 2019 für die aus China stammenden Millionäre. Gibt es bereits mehr als 1 Mio. Chinesen, deren Nettovermögen die Schwelle von 1 Mio. Dollar überschritten haben, dürfte sich der Wert bis 2019 auf 2,3 Mio. verdoppeln.«
Und so hat jede der genannten Mainstream-Zeitungen sich ihren eigenen Aspekt aus dem Bericht, der den brisanten Niedergang der Mittelschicht rund um den Globus schildert, herausgepickt.

Auf diese Weise werden beim Publikum – gewollt oder nicht – ganz bestimmte Realitäten geschaffen. Dass unsere Gesellschaften sozial auseinanderfallen wird trotz der Steilvorlage, die derCredit-Suisse-Bericht liefert, bei dieser Gelegenheit nicht thematisiert.

Oft werden bestimmte Realitäten von den Mainstream-Medien gezielt geschaffen. Ich habe diesem Thema in meinem neuen Buch Lügenpresse – Wie uns die Massenmedien durch Fälschen, Verdrehen und Verschweigen manipulieren einen Abschnitt gewidmet.

Hier ein Textauszug:

Inszenierte Realitäten

Wenn die Realität, die berichtet werden soll, nicht in das gängige Erklärungs- oder Berichtsmuster der Mainstream-Medien passt, wird sie zurechtgebogen. Medienwissenschaftler wie der Tübinger Professor Hans-Jürgen Bucher wissen das. Und nicht erst seit gestern. Bucher schrieb vor über 20 Jahren in seiner Forschungsarbeit »Mediensprache«, dass das »Zusammenspiel von Presse und Politik heute nach komplizierteren Spielregeln verläuft: über inszenierte Berichterstattungsanlässe wie Pressekonferenzen, sogenannte Hintergrundgespräche, oder auch über subtile Formen der Presselenkung.« Wir müssen zum Glück nicht so weit zurückgehen und derart tief in den Zeitungsarchiven graben, um zahlreiche Beispiele für diese These zu finden. Jeder erfahrene Journalist kann die Pressekonferenzen, die er besucht hat, längst nicht mehr zählen. Ganz zu schweigen von Hintergrundgesprächen und allen möglichen Pressefahrten.

Die Berichterstattung in deutschen Mainstream-Blättern über die Flüchtlingswelle, die sich derzeit über das Land ergießt, ist eine einzige Inszenierung, wie die Neue Zürcher Zeitung ihren deutschen Mainstream-Kollegen im Juni 2015 in dem Bericht »Deutsche Medien – Minenfeld Migration« ins Stammbuch schrieb.

Das Schweizer Blatt warf den hiesigen Medien vor, die »große Wanderung« mit »erkennbarer Schlagseite bei der Themensetzung und der Wahl inhaltlicher Schwerpunkte« zu beschreiben. Man könne den Eindruck gewinnen, so wurde die Beobachtung der deutschen Berichterstattung bis zum Juni des Jahres zusammengefasst, dass die Masseneinwanderung nur von den Anhängern einer Festung Europa zu einem Problem gemacht werde. Doch dann entlarvte die NZZ eine wichtige und vielsagende Masche der deutschen Leitmedien: »Wo Vertreter einer solchen Position (Kritiker der Masseneinwanderung, Anm. des Verfassers) überhaupt zugelassen werden, inszeniert man ihren Auftritt so, dass im Fernsehen ihre Thesen durchs Bilder-Arrangement schon dementiert werden.« Den deutschen Massenmedien wirft die NZZ eine stillschweigende Zustimmung zu einer Haltung vor, »die jede kontrollierte Asylpolitik außer Kraft setzen will und nur noch das weite Öffnen aller Tore erlaubt.«

Hier hat sich keine rechtspopulistische Postille zu Wort gemeldet, sondern eine der angesehensten Zeitungen des Alpenlandes. Als Ziel der inszenierten Berichterstattung vermutete die NZZ den Versuch, das Publikum moralisch unter Druck zu setzen, um »einen gesellschaftlichen Wandel von erheblichem Ausmaß zu akzeptieren, ohne die eigenen Sorgen, Vorbehalte und Bedürfnisseangemessen in die öffentliche Erörterung einbringen zu können«. Im Klartext: Zahlreichen Reportagen über die Probleme der Flüchtlinge beim Eingewöhnen in die neue Kultur und Umgebung standen seltene Berichte gegenüber, die schilderten, »wie Deutsche die Verwandlung ihres Viertels in ein neues multikulturelles Viertel erlebten«.

Inszeniert wurden über viele Monate hinweg auch zahlreiche Berichte über angeblich bevorstehende russische Invasionen in der Ukraine. Man kann sie mittlerweile gar nicht mehr zählen. Im Sommer und Herbst 2014 schien es eine Zeit lang, als drohe beinahe jede Woche eine russische Truppeninvasion in der Ukraine. Meist wurde mit dieser Warnung der ukrainische Armeesprecher Andrej Lyssenko zitiert.Fast die gesamte Mainstream-Presse gab die gebetsmühlenartig wiederholten Alarmrufe wieder. Die Invasion blieb freilich aus.

Anfang August 2015 warnte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko den Westen vor den gefährlichen Gelüsten des Wladimir Putin, der »ganz Europa will«, wenn man ihn nur lässt. Man muss kein Militärexperte oder ausgebuffter Ökonom sein, um sich in wenigen Sekunden klarzumachen, dass dies alle Möglichkeiten sprengen würde, die Putin zur Verfügung stehen.Trotzdem wurde Poroschenkos »Warnung«, die nur eine propagandistische Ente sein konnte, von der Welt über Focus und die Zeit bis hin zur kleinen Aargauer Zeitung fast überall gemeldet. Sie passte wunderbar ins Bild vom bösen Iwan und der guten NATO, die Putin ‒ zu allem entschlossen ‒ von seinen aggressiven Plänen abhielt.




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